Kieler Nachrichten, 5.9.08

Flandernbunker: Revolution im Dunkeln

Von Jens Raschke

Kiel - Lange hat man sich in Kiel schwer getan, sich zumindest halbwegs zum Matrosenaufstand vom November 1918 zu bekennen. Das scheint sich nun zu ändern. Zum 90. Jahrestag, so hört man, plant die Stadt gar einen offiziellenFestakt.  Sie weiß nur noch nicht, wie dieser aussehen soll. Aber soviel lässt sich wohl schon sagen: Wie das, was die Berliner Theatergruppe „Limited Blindness" zur Zeit im Flandernbunker veranstaltet, wird er sich wohl eher nicht gestalten. Schließlich möchte man gerne sehen, mit wem man das Sektglas hebt und fröhlich die Internationale gurgelt.

Stockduster ist es in der obersten Etage des Flandernbunkers, als die theatralische Collage Matrosenaufstand ihren weitausholenden Anfang nimmt. Die Theatermacher verlangen ihrem vollzählig angetretenen Publikum ähnliches ab, wie seinerzeit die Marineführung ihren Matrosen, als sie diese zum Endkampf gen England schicken wollte: einen eisernen Durchhalte willen. Über eine pausenlose Distanz von 80 Minuten spannt sich der Bogen, den Regisseur Heiko Michels und Dramaturg Fabian Larsson sich für ihr ambitioniertes Projekt gesteckt haben, von den imperialistischenVorboten des 1. Weltkriegs in den 1880er Jahren bis zur Ausrufung der Weimarer Verfassung im August 1919. Und mittendrin: die vornehmlich wackeren Arbeiterund Matrosen zu Kiel.

Michels und Larsson haben sich prima eingelesen in das Zeitzeugenmaterial, das ihnen vom Matrosenaufstandsforscher Klaus Kuhl zur Verfügung gestellt wurde, und daraus eine sehr ausführliche Textsammlung kompiliert, die vom vierköpfigen Ensemble (Caroline du Bled, Thomas Gerber, Martin Heesch, Frank Scheewe) als lebendiges Hörstück zwischen expressivem Pathos, sperrigem Formalismus und norddeutscher Drögheit vorgetragen wird. Vom Brief übers Tagebuch bis zur öffentlichen Proklamation ist so ziemlich jede Textsorte vertreten, aus der sich der leicht entflammbare Geist der Zeit herausdestillieren lässt. Und auch das zeitgenössische Liedgut fehlt nicht: Kammersänger Hans Georg Ahrenssingt es zum sanft wogendenAkkordeonspiel von Jurij Petrich.

Seine Höhepunkte hat derAbend vor allem dann, wenn es mal nicht um das pflichtbewusste und auf Dauer ermüdende Abarbeiten der Chronologie geht, wenn im Dunkeln tatsächlich greifbare Figuren entstehen, die reichlich überforderten Gründer des ersten Soldatenrats etwa, oder wenn sich Text- und Toncollage (Sound: Mario Koppentz) zu einem inneren Kino verdichten und sich überschlagen wie die Ereignisse selbst. Schade eigentlich nur, dass man immer wieder den Eindruck hat, man erhalte hier eine naseweise Nachhilfestunde in Historischem Materialismus:  Kommt Zeit, kommt Arbeiter- und Soldatenrat. Am Ende mischt sich die erste Strophe des Deutschlandlieds unter den Tingeltangel der anbrechenden „Goldenen Zwanziger": „Deutschland, Deutschland über alles." Aber diesen nächsten teutonischen Größenwahnsinn haben ja bekanntlich nicht der deutsche Arbeiter und der deutsche Soldat beendet.